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Frisches aus dem Geschäft

Das Selbstverständliche in Katastrophenform

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Cover

Jakob liest Monica Byrnes Die Brücke

Das ist echt mal das richtige Buch zur richtigen Zeit: Täglich sehen wir in den Nachrichten derzeit das eigentlich Selbstverständliche in Katastrophenform – nämlich dass Menschen, denen es dort, wo sie sind, dreckig geht, sich an einen anderen Ort aufmachen. Monica Byrnes Roman Die Brücke ist ein Buch über Migration, dass die Schlauchboot- und Aufnahmelagerbilder aufruft und in einen neuen Kontext setzt. Das Buch macht nicht nur das, und es macht auch nicht unbedingt alles gut … aber erst mal bin ich einfach froh, dass es da ist und in deutscher Übersetzung in unseren Regalen steht.

Die SF-Prämisse von Die Brücke ist ungewohnt: In der Zukunft ist Indien zur dominanten Weltmacht aufgestiegen und steht an vorderster Front bei der Ausbeutung von Afrikas – insbesondere Äthiopiens – natürlichen Rohstoffen. Sowohl Indien als auch Afrika sind in dem Roman Orte extremer postkolonialer Hybridisierung, an denen alle möglichen Sprachen und Kulturpraktiken ein mehr oder weniger stabiles Amalgam gebildet haben. Europa und die USA spielen vordergründig keine Rolle in dieser Welt; sie sind nur in Form der historischen Spuren sichtbar, die sie hinterlassen haben, vor allem im nach wie vor verbreiteten Gebrauch des Englischen.

Die eine Hauptfigur des Romans ist Meena, eine junge, gefährlich instabile Frau, die an Verfolgungswahn leidet und nach einer rätselhaften persönlichen Tragödie beschließt, Indien auf dem Weg über den „Trail“ zu verlassen. Der Trail ist ein Gezeitenkraftwerk in Form einer dreitausend Meilen langen und zwei Meter breiten Kette zwischen Indien und Afrika, und den Gerüchten zufolge wird sie oft von illegalen Migranten und wagemutigen Abenteurern genutzt, um das Meer zu überqueren.

Die andere Protagonistin ist Mariama, ein Kind, dessen Mutter als Sklavin in einem nicht näher benannten afrikanischen Land lebt. Als ihrer Mutter etwas zustößt, läuft sie davon und findet Unterschlupf bei zwei freundlichen Händlern, die bei ihren Geschäften quer über den Kontinent reisen. Schon bald nehmen die Händler eine weitere Passagierin auf – eine wunderschöne, selbstsichere Frau namens Yemaya. Mariama, die so gut wie nichts über die Welt weiß, verliebt sich Hals über Kopf in Yemaya und vergöttert sie geradezu. So richtet sie den gesamten von ihr erzählten Teil des Romans direkt an Yemaya, wie ein nicht enden wollendes Gebet.

Sehr lange Zeit bleibt das genaue Verhältnis zwischen den beiden Hauptprotagonistinnen unklar. Ihre Geschichten weisen deutliche Parallelen auf: Beide sind auf der Flucht, nachdem der jeweils wichtigsten Person in ihrem Leben etwas Furchtbares widerfahren ist; in beiden Fällen steht dieser Vorfall mit einer gefährlichen Schlange in Verbindung (wobei schließlich deutlich wird, dass die Schlange in beiden Fehlen keine echte Schlange ist, sondern eine Metapher für ein sexualisiertes Verbrechen); beide haben die Wirklichkeit nicht ganz im Griff. Gleichzeitig steht vieles an ihnen in völligem Gegensatz zueinander. Meena hat gerne und viel Sex, und als sie auf den Trail ist und kein potenzieller Partner in Sicht, vertreibt sie sich sie Zeit damit, an Sex zu denken; Mariama ist ein kleines Mädchen, das über Sexualität nur das weiß, was es gesehen hat, als es beobachten musste, wie man seine Mutter vergewaltigte; und als Mariama anfängt, ihre Liebe zu erotisieren, versieht sie die Sexualität mit einer völlig neuen Bedeutung und rückt sie in die Nähe des Heiligen. Meena kommt aus vergleichsweise privilegierten Verhältnissen in Indien, Mariama ist die Tochter einer Sklavin. Meenas Psychose kreist um sie selbst – ihre Romankapitel bestehen zu weiten Teilen aus den eingebildeten Stimmen ihrer Geliebten und ihrer Familie, die während ihrer Reise über den Trail auf sie einreden und ihr immer wieder bestätigen, dass sie die einzig wirklich wichtige Figur in der von ihr erlebten Geschichte ist. Dagegen dreht sich Mariamas Psychose um eine andere Person, nämlich Yemaya, und sie wendet sich in ihrer Erzählung stets nur an sie.

Man gewinnt auch den Eindruck, dass beide Figuren entfernten Echos der jeweils anderen begegnen. Meena sieht auf der Reise über den Trail ein Mädchen, bei dem es sich um Mariama handeln könnte; und als Yemaya Mariama erzählt, dass sie einmal über eine Seeschlange gewandert ist, meint man, dass es sich bei ihr um eine ältere Version von Meena handeln könnte (auch wenn sich das bald als unmöglich erweist). Dann erinnert Meena sich an die Geschichte einer Sklavenfrau, der sie einmal in dem Krankenhaus geholfen hat, in dem sie gearbeitet hat, und die sehr an die Geschichte von Mariamas Mutter erinnert (doch die kann es nicht sein …).

Irgendwann dämmerte es mir beim Lesen dann natürlich doch, dass die vielen Gemeinsamkeiten zwischen den Frauen in diesem Buch überhaupt nicht auf irgendwelche konkreten Zusammenhänge zwischen ihren Geschichten hindeuten müssen – es handelt sich schlicht um ziemlich verallgemeinerbare Fluchterfahrungen, die in ähnlicher Weise wahrscheinlich einen Großteil der Menschheit betreffen. Das überhaupt mal klar hervorzustellen, durchaus mittels eines kleinen Täuschungsmanövers, ist schon mal eine ziemlich großartige Leistung von Die Brücke.

Es gibt sie dann allerdings schon, die zu entschlüsselnde Verbindung zwischen den beiden Frauengeschichten: Meenas Eltern, die als indische Ärzte in einem äthiopischen Krankenhaus arbeiteten, sind ermordet worden, bevor Meena auch nur zur Welt gekommen war (man hat sie buchstäblich aus dem Leib ihrer ermordeten Mutter herausgeschnitten) – angeblich handelte es sich um ein Hassverbrechen im Kontext damaliger politischer Proteste gegen die indische Vorherrschaft in Äthiopien. Meena sieht es als ihre Mission, nach Äthiopien zu gelangen, um die Person zu finden, die ihre Eltern ermordet hat. Es stellt sich jedoch heraus, dass die Geschichte hinter ihrer Ermordung eine ganz andere ist als erwartet … nach etwa zwei Dritteln des Buches bilden die Erzählstränge um Meena und Miriama nun langsam ein Gesamtbild, das jeden Falls überraschend und schockierend ist.

Allerdings muss ich gestehen, dass genau die Art, wie schließlich doch alles zusammenläuft, auch das ist, was mich ein bisschen an Die Brücke ärgert. Ohne das Ende zu spoilern, lässt sich sagen, dass der Roman eine Geschichte über einen Mord im Zuge eines politischen Aufstands in eine Art Soap-Opera-Sache verwandelt. Es mag eine gewagte und ziemlich blutige Soap sein (allemal mehr Breaking Bad als Friends), in der durchaus mehrere starke Botschaften vermittelt werden – vor allem die, dass die Idolisierung eines anderen Menschen etwas zutiefst Gefährliches, Psychotisches und sogar Gewalttätiges und Vergewaltigendes sein kann; außerdem, dass gewalttätige Gesellschaften gewalttätige Individuen hervorbringen. Aber gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass dabei die Existenz tatsächlich politisch und/oder ideologisch motivierter Gewalt abgestritten wird. Als wollte das Buch mir sagen: „Falls im Zusammenhang mit politischem Widerstand gegen Unterdrückung unverhältnismäßige Gewalt ausgeübt wird, hat das nichts mit dem Widerstand zu tun – es handelt sich dabei um die Taten verwirrter Einzelner.“ Damit weicht der Roman dem Problem aus, dass selbst dann, wenn Menschen für eine gerechte Sache kämpfen, höchstwahrscheinlich politisch motivierte Gewalt gegen Personen begangen wird, die das schlicht nicht verdient haben.

Das würde mich eigentlich gar nicht besonders stören, wenn der Roman am Anfang nicht vermittelt hätte, dass es ihm um die Auseinandersetzung mit genau diesem Problem geht. Auf mich macht es den Eindruck, als sei die Autorin einer komplexen politischen Frage aus dem Weg gegangen und habe den Roman stattdessen einer einer erschreckenden, blutigen, aber letztendlich relativ bedeutungsleeren Enthüllung beendet.

Trotzdem ist Die Brücke ein ungeheuer gehaltvolles Buch – sowohl, was die anderen angesprochenen Themen angeht, als auch rein sprachlich. Meenas Weg über den Trail ist ein faszinierend erzählte, zunehmend bizarre Reise nach innen, und Mariamas Kapitel haben etwas beinahe beängstigend Lyrisches. Einen Lesegenuss mag ich Byrnes Roman nicht nennen, zu schwer liegt vieles davon im Magen – gerade wenn man ihn im Kontext aktueller Nachrichtenbilder sieht und wieder mal daran denkt, dass die große Politik sich derzeit in der „Flüchtlingsfrage“ den Takt (wenn auch nicht die Rhetorik, da ist man feinsinniger ...) vom rassistischen Mob auf der Straße vorgeben lässt und fleißig neue „sichere Herkunftsländer“ definiert. Da schadet es kein bisschen, wenn Byrne einen daran erinnert, dass Fluchterfahrungen – so bitter das ist – zu den verbreitetsten menschlichen Realitäten überhaupt gehören. Und dass man sich auch als Bürger eines (auf Kosten des Großteils der restlichen Welt) reichen Landes nicht für immer darauf einrichten kann, sie nur in Romanform an sich heranzulassen.

 

Monica Byrne: "Die Brücke", Heyne Euro 14,99 (Originaltitel: The Girl on the Road)

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Kommentare

Kommentar von Dierykedy |

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